Andacht Heute

Rückkehr zu den Tugenden Gottes

Im Mittelalter verstand man unter den Kardinaltugenden die vier Grundtugenden Klugheit (Weisheit), Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung. Sie galten als die zentralen Aspekte eines sittlich guten Lebens und wurden in der christlichen Tradition mit den göttlichen Tugenden in Verbindung gebracht.

Heute leben wir in einer Gesellschaft, in der sich vieles um „woke Tugenden” dreht: Wachsamkeit gegenüber Rassismus, Sexismus, Homophobie und anderen Formen der Diskriminierung, Gerechtigkeit im Sinne des Einsatzes für gleiche Rechte und faire Chancen für Minderheiten und benachteiligte Gruppen, Solidarität in Form der Unterstützung marginalisierter Gruppen und des aktiven Eintretens gegen Ausgrenzung sowie Inklusion in Form der Förderung von Diversität und Anerkennung unterschiedlicher Identitäten. Diese Ideale für eine schöne neue Welt werden mit großem Eifer und moralischem Rigorismus mittels flächendeckender medialer Verbreitung gegen die Vertreter der traditionellen Kardinaltugenden ins Feld geführt. Wer sich dieser „woken” Auffassung widersetzt, dem droht die gesellschaftliche Ausgrenzung.

Es gibt aber mittlerweile eine politische Gegenreaktion: Parteien und Bewegungen fordern eine Rückkehr zur „Normalität“. Zudem gibt es zahlreiche Kritiker, die ein Ende der Wokeness in den nächsten Jahren voraussagen. Als Christen können wir diesen Prozess unterstützen, indem wir die Tugenden Gottes (Glaube, Liebe, Hoffnung) leben, ohne uns dabei als Tugendwächter aufzuspielen.

Gerufen, nicht geworfen

Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar erschaffen bin, es erfüllt mich mit Ehrfurcht.
Psalm 139,14

Der Philosoph Martin Heidegger beschreibt mit dem Begriff „Geworfenheit”, dass der Mensch ohne eigenes Zutun in eine bestimmte Welt, Zeit und Situation hineingestellt ist. Wir wählen weder unsere Geburt, unsere Familie, unsere Kultur noch die historische Epoche, in der wir leben. Allerdings ist nicht alles determiniert (vorgegeben). Auch wenn totale Selbstbestimmung eine Illusion ist, können wir unser Dasein in gewissen Grenzen gestalten bzw. entwerfen. Neben der Geworfenheit ist der „Entwurf” bei Heidegger eine Grundgegebenheit der menschlichen Existenz.

Ohne Gott im Blick zu haben wirkt die Geworfenheit wie ein blinder Zufall und kann zu einem Gefühl der Verlorenheit führen. Das Leben erscheint dann als „einfach da“ – ohne Grund, ohne Ziel. Im Glauben kann ich meine Existenz jedoch als gewollt und gerufen verstehen. Ich bin nicht nur „hineingeworfen“, sondern von Gott ins Leben gestellt – mit Sinn und Ziel. Auch wenn ich meine Herkunft nicht gewählt habe, bin ich in Gottes Hand geborgen. Das gibt mir Trost und Vertrauen. Der Glaube verwandelt diese Last in eine Aufgabe: Ich darf mein Leben gestalten, im Vertrauen darauf, dass Gott mich begleitet und meine Möglichkeiten segnet.

Selbsternannte Autoritäten

„Wisst ihr nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden? Irrt euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, Ehebrecher, Lustknaben, Knabenschänder, Diebe, Habgierige, Trunkenbolde, Lästerer oder Räuber werden das Reich Gottes erben.“
Korinther 6,9-10

Es gibt Ausleger der Bibel, die immer genau zu wissen scheinen, was Gott denkt. In ihren Betrachtungen tauchen dann Formulierungen wie „Gott möchte von uns, dass …” auf. Das klingt, als wären sie nicht nur Interpreten, sondern Drehbuchschreiber eines göttlichen Dramas. Das sollte uns stutzig machen, denn es riecht sehr nach Selbstbeweihräucherung. Es sieht so aus, als hätten diese Leute die Gedanken Gottes voll erkannt und setzten sie souverän um – im Gegensatz zu einfachen Gläubigen, die sich nicht immer sicher sind, was Gottes Wille in einer konkreten Situation ist. Gerne picken sich solche „klugen” Interpreten einen Bibelvers heraus, vergrößern ihn und falten die sich aus ihrer Auslegung ergebende strategische Lehre wie einen Schlachtplan aus. Deren Befolgung erklären sie dann für andere Menschen als verbindlich.

So wird denn auch der obige Vers gerne herangezogen, um gegen jede Art von Verfehlung vorzugehen. Anstatt den Text als Teil einer größeren Argumentation über Umkehr und Vergebung zu lesen, wird er als gesetzlicher Katalog verstanden, der sich beliebig erweitern lässt. Daraus lassen sich Moralregeln ableiten: von der strengen Einhaltung der sonntäglichen Versammlung in der Gemeinde bis hin zum Ausschluss von AfD-Mitgliedern aus kirchlichen Ämtern. Und das alles, weil man sich ja so sicher ist, was Gottes Wille ist. So entsteht leicht ein Tonfall moralischer Überlegenheit, bei dem die Bibel als Waffe statt als Einladung zu Umkehr und Hoffnung benutzt wird, um Macht über andere auszuüben. Vergessen wir nicht, dass der Glaube uns befreit von Angst, Schuld und dem Zwang, sich vor Menschen rechtfertigen zu müssen. Er ruft uns in eine Beziehung, die von Vertrauen und Liebe geprägt ist – nicht von Unterwerfung unter selbsternannte Autoritäten.

Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen.
Galater 5,1